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Auf der Suche nach dem Anderen: Wen wählten die russischsprachigen Deutschen in den Bundestag?

Die "Alternative für Deutschland" erzielte bei der Bundestagswahl einen historischen Sieg. Welchen Beitrag leisteten "die Russen"? English, RU

Tatiana Golova Editors of OpenDemocracy Russia
9 October 2017
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Die AfD im Wahlkampf. Bild: strassenstriche.net / Flickr (CC BY-NC 2.0). Einige Rechte vorbehalten.

Am 24. September hat Deutschland den neuen Bundestag gewählt. Die drittstärkste Partei, nach den beiden Traditionsparteien CDU/CSU und SPD, wurde die rechtspopulistische "Alternative für Deutschland" (AfD) - eine Partei, die in der Migrantenfrage eine ausdrücklich fremdenfeindliche Position einnimmt, und die zu allen anderen politischen Fragen herzlich wenig zu sagen hat. Mittlerweile verbreitet sich in den öffentlichen Debatten die Überzeugung, dass die AfD von den "Russen" gewählt wurde - genauer gesagt, von den Russlanddeutschen aus der ehemaligen UdSSR, die als Spätaussiedler nach Deutschland kamen. Wie kommt diese Vorstellung zustande - und trifft sie überhaupt zu? Darüber sprach oDR mit der wissenschaftlichen Mitarbeiterin am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS), Soziologin Dr. Tatiana Golova.

Wie begründet ist die gängige Meinung von der AfD als einer Partei der russischsprechenden Einwanderer? Die AfD selbst positioniert sich öfter als solche, und zwei neue Bundestagsmitglieder kommen aus den Reihen der Spätaussiedler, oder, wie sie auch genannt werden, der Russlanddeutschen. Stimmt es, dass diese Partei die Interessen der russischsprachigen Diaspora vertritt - oder ist das falsch?

Auf Ihre Frage stelle ich zwei neue: Was ist die russischsprachige Diaspora und wer sind die Russlanddeutsche? Geht es um die postsowjetischen Migranten, dann sind es laut dem Mikrozensus aus dem Jahr 2015 ungefähr drei Millionen Menschen (die Zahlen für die zweite Generation sind übrigens aufgrund der Untersuchungsmethodik zu niedrig ausgefallen). Die meisten davon sind deutschstämmige Einwanderer aus der ehemaligen UdSSR. In Deutschland erhielten sie den Status der sogenannten "Spätaussiedler" - gemeint sind Menschen deutscher Herkunft, die nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs in ihrer alten Heimat repatriiert wurden. Zwischen 1990 und 2015 kamen ungefähr zwei Millionen zweihundert Tausend Spätaussiedler nach Deutschland. Inzwischen gibt es schon die zweite oder sogar dritte Generation ihrer Kinder, die hier zur Welt kamen. Es gibt aber auch noch andere Gruppen.

Zwischen 1990 und 2015 kamen ungefähr zwei Millionen zweihundert Tausend Spätaussiedler nach Deutschland

Die zahlenmäßig zweitstärkste ist die Gruppe der jüdischen Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, vor allem aus Russland, ungefähr zweihundert Tausend Menschen, die in der gleichen Zeit gekommen sind. Darüber hinaus gibt es hochqualifizierte Migranten, die seit 2015 mit der sogenannten "Blauen Karte" einreisen. Es gibt Familienmitglieder, es gibt Flüchtlinge, Menschen, die aus Russland stammen, aber vor der Einreise nach Deutschland in Israel oder in den USA oder in einem anderen europäischen Land lebten. Von allen diesen Gruppen sind die Russlanddeutschen - die Spätaussiedler - für die AfD besonders interessant, da sie mehr politische Rechte haben, vor allem das passive und aktive Wahlrecht. Für alle anderen Kategorien der Migranten aus der ehemaligen Sowjetunion ist der Weg zur deutschen Staatsbürgerschaft und den damit verbundenen politischen Rechten erheblich erschwert, und bei weitem nicht alle sind eingebürgert. Daher unterscheiden sich die postsowjetischen Einwanderer nicht nur in der Struktur des Kulturkapitals und in ihrer Lebensweise, sondern auch im Zugang zur politischen Beteiligung in Deutschland.

Der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) veröffentlichte 2016 eine Studie über die politischen Neigungen der Migranten - sowohl der Eingebürgerten als auch der Nichtbürger. In der Gruppe der Spätaussiedler waren 4,7% für die AfD. Die Umfrage wurde vom März bis August 2015 durchgeführt, also bevor die Partei entschieden nach rechts abgedriftet ist. Zum Vergleich, unter Deutschen ohne Migrationshintergrund zeigten 1,8% eine Vorliebe für die AfD – also dreimal so wenig.

Welche politischen Sympathien haben die Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion im Vergleich zu anderen Migrantengruppen in Deutschland? Haben Spätaussiedler irgendwelche Besonderheiten?

Sie setzen sich von den anderen ab, und doch gibt es auch Ähnlichkeiten. Türkische Einwanderer - Gastarbeiter und deren Nachkommen - hatten und haben immer noch eine  ausgeprägte SPD-Präferenz. Lange Zeit war die CDU die wichtigste Partei für die Russlanddeutsche, die Stimmanteile erreichten 65-68%, wobei diese Zahl in 2016 auf 40-45% sank. Eigentlich durchlaufen die Russlanddeutsche den selben Prozess, den die türkischen Zuwanderer seinerzeit durchgemacht haben. Das beobachtet Andreas Wüst, deutscher Politikwissenschaftler: Die politischen Präferenzen differenzieren sich zunehmend. Je länger die Zuwanderer in einem neuen Land bleiben, desto weiter auseinander gehen ihre politischen Sympathien. Neue Favoriten - die Linkspartei, die Grünen - gewinnen ihre Anhänger unter den Zuwanderern.

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Die Kräfteverteilung nach der Wahl hat sich verändert, jedoch bleibt Angela Merkel zum vierten Mal im Amt. Foto CC-by-2.0: Arno Mikkor / Flickr. Einige Rechte vorbehalten.

Nun zur Wahl. Wie erfährt man, wie Russlanddeutsche abgestimmt haben? Man könnte sich Bezirke ansehen, wo der Anteil der Spätaussiedler besonders hoch ist – sie entstanden in den 1990er Jahren sowohl durch die kurzsichtige Migrationspolitik auf der Kommunalebene als auch durch die eigenen Neigungen der Zuwanderer. Die Russlanddeutschengruppe in der AfD beruft sich selbst auf die glänzenden Ergebnisse in solchen Kommunen, zum Beispiel im Wahlbezirk Maibuche in Waldbröl, Nordrhein-Westphalen, wo die AfD 50% der Stimmen bekam. Es ist ein kleiner Bezirk, in dem Russlanddeutsche kompakt wohnen. Diese 50% bedeuten 124 Stimmen, die keine entscheidende Auswirkung auf die Wahlkreisergebnisse hatten. Und wenn man noch genauer hinschaut, dann sieht man, dass die Wahlbeteiligung hier eher niedrig war, mit 44% gegenüber den 78% deutschlandweit. Ähnliche Ergebnisse für die AfD sehen wir in vielen anderen Wahlkreisen mit einem hohen Anteil von wahlberechtigten Zuwanderern aus der Sowjetunion. Zum Beispiel im Stadtteil Buckenberg in Pforzheim bekam die AfD 37% der Stimmen.

AfD greift Themen auf, die für alle ihre potentiellen Wähler relevant sind, und bereitet sie so geschickt auf, dass Russlanddeutsche sich besonders angesprochen fühlen

Sinnvoller wäre es zu fragen, inwiefern man anhand der Daten, die uns vorliegen, die Wahlergebnisse aller Spätaussiedler durchs Extrapolieren errechnen kann. Es gibt ja auch noch Menschen, die nicht in den Zuwanderervierteln wohnen und nicht voll und ganz von den relativ hermetischen russischsprachigen Sozialnetzwerken in Beschlag genommen sind. Allerding liegen uns zur Segregation der Russlanddeutschen kaum Daten vor.

Woher kommt dann überhaupt diese Verknüpfung "Russlanddeutsche - AfD"? Warum hat die AfD diese Gruppe als ihre potentiellen Wähler eingekreist?

Das hängt zum Teil damit zusammen, wie diese Gruppe sich selbst begreift. Die Geschichte der Russlanddeutschen im 20. Jahrhundert ist eine Geschichte der Deportation und Repression. Aber die Erinnerung an die Repression wird jetzt in den Hintergrund gedrängt. Es ist nämlich schwierig: Wenn man an eigene Vertreibung denkt, wie soll man dann eine Politik unterstützen, die einen restriktiven Kurs gegenüber Menschen auf der Suche nach einer Zuflucht fordert?

Die AfD schöpft ihre Anziehungskraft in der Enttäuschung: "Wir kamen in unsere Heimat zurück, sind endlich zuhause angekommen - doch hier ist alles anders und fremd"

In den Vordergrund rückt daher das Thema des gemeinsamen Schicksals: "Wir sind in unsere Heimat zurückgekehrt. Wir kamen mit bestimmten Erwartungen nach Deutschland. Es ist ein Land, wo normales Leben möglich ist: Wir arbeiten, verdienen, bestreiten unser Lebensunterhalt. Wir teilen die Vorstellung, dass Wohlstand durch Arbeit erreicht wird. Wir haben unsere Traditionsfamilie: Vater-Mutter-Kinder - und eine starke Verbundenheit der Generationen. Und natürlich nehmen wir die deutsche Kultur an; wir wollen "als Deutsche unter Deutschen leben".

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"Als Deutsche unter Deutschen leben" - AfD-Wahlkampfplakat in einer deutschen Zeitung. Auf dem Plakat steht: "Bewahrt eure Kinder von den Folgen einer unkontrollierten Migration und vom Schulunterricht in Perversion". Bild: Aider Muzhdabaev / Facebook Einige Rechte vorbehalten.

Es ist auch die ethnische Komponente dabei - "Wir wurden als Deutsche verfolgt, wir wollen nun in unserer deutschen Heimat leben”. Aber diese Vorstellung vom „richtigen deutschen Leben" bringen sie aus den ländlichen Gebieten und Kleinstädten Sibiriens und Kasachstans mit, wo sie aufgewachsen sind. Die CDU zehrte lange von diesem Heimkehr-Diskurs. Doch die Realität der 1990er Jahre und wie sie jetzt erinnert wird sollte man nicht verwechseln.

Die AfD schöpft ihre Anziehungskraft in der Enttäuschung: "Wir kamen in unsere Heimat zurück, sind endlich zuhause angekommen - doch hier ist alles anders und fremd". Die Spätaussiedler wurden damit konfrontiert, dass die Deutschen sie als Fremde behandelten, sie fühlten sich als Menschen zweiter Klasse. Der Prozess der Integration läuft trotzdem, und im Laufe der Integration differenzieren sich die politischen Einstellungen. Die Frage ist nur, wer davon profitiert. Da taucht die AfD auf und knüpft an der Enttäuschung an, indem sie die Themen von allgemeiner Brisanz - die Flüchtlingsfrage, zum Beispiel - so interpretiert, dass es bei den Russlanddeutschen einen besonderen Anklang findet. Zum Beispiel, so: "Wir mussten so lange warten (das ist übrigens wahr, viele warteten jahrelang auf die Einreise), und die Flüchtlinge, kaum angekommen, werden einfach durchgewinkt - wo bleibt die Gerechtigkeit?" Es steht auf einem anderen Blatt, dass die Spätaussiedler gleich nach der Ankunft völlig andere Rechte und Möglichkeiten hatten und unverzüglich die Staatsbürgerschaft erhielten. Das wird jetzt gern übersehen. AfD greift Themen auf, die auch für ihre anderen potentiellen Wähler relevant sind, geben ihnen aber eine geschickte Wendung, so dass Russlanddeutsche sich mit ihren eigenen Problemen und Diskursen angesprochen fühlen.

Es ist noch etwas zu berücksichtigen: AfD ist eine neue Partei, und sie rekrutiert ihre Mitglieder bei weitem nicht nur aus der CDU. Ein junger Politiker in Deutschland muss schon im Schulalter in einer Partei aktiv werden, damit er es irgendwann in den Bundestag schafft. Für viele Zuwanderer aus Russland ist dieser Zug also schon abgefahren. Die neue Partei - AfD - macht es möglich, einige Anfangsstufen der Parteileiter zu überspringen. Das klappt zwar nicht für jeden. Waldemar Herdt stand auf dem Platz sieben in der Parteiliste der sächsischen AfD, Anton Friesen (Jahrgang 1985) war auf Platz fünf in Thüringen.

Die AfD wünscht sich einerseits die Unterstützung der Russlanddeutschen, möchte andererseits die Vertretung, die Chancen für den Bundestag nicht so gerne teilen

Einige Kandidaten gingen leer aus, wie Sergej Tschernow – Platz 11 der Parteiliste. Das gleiche passierte Eugen Schmidt: Russlanddeutscher und AfD-Aktivist, er war die Nummer 17 in der Parteiliste und bekam keinen Sitz im Parlament. Die AfD wünscht sich einerseits die Unterstützung der Russlanddeutschen, möchte andererseits die Vertretung, die Chancen für den Bundestag nicht so gerne teilen. Allerdings wächst eine neue Generation heran. Es gibt nun in der CDU und SPD und anderen Parteien Menschen, die jung genug sind, um ihre Parteikarriere von der allerersten Stufe an zu durchlaufen. Die Zukunft wird spannend.

Ähnliche Tendenzen sind auch woanders abzusehen. Auch in Israel oder den USA können russischsprachige Migrantengruppen die rechtslastigen Tendenzen stärken. Wie lässt sich das erklären? Die Zuwanderer in Deutschland unterscheiden sich nach ethnischen, sozialen und wirtschaftlichen Kriterien stark von denen, die nach Israel oder in die USA ausgewandert sind. Und dennoch bewirken sie in den Zuwanderungsländern ähnliche Prozesse. Woran liegt das?

Ich kann ihnen nicht viel zu Israel und USA sagen, aber zu Deutschland fällt mir einiges ein. Schon die Aufenthaltsberechtigung für die Russlanddeutsche sowie ihre Identität selbst sind durch die Kategorie der Herkunft begründet; die Zugehörigkeit zur deutschen Nation durch Geburt - das ist ein sehr konservatives Prinzip. Also können sie ebenso wenig gegen diese Grundsätze antreten wie sie ihre eigene Identität abstreiten können.

Die AfD war nicht die erste rechte Partei, die versuchte, Russlanddeutsche zu mobilisieren. Schauen wir uns die Wahlergebnisse in Sachsen an, mal abgesehen von den Russlanddeutschen. Früher haben dort bereits die Nationalisten gute Ergebnisse erzielt. Sie kamen jedoch nie so weit wie die AfD jetzt: Viel weniger Wähler waren bereit, die offen rechtsextreme NDP zu wählen. Die AfD hat ihre Wurzeln nicht im klassischen rechtsextremen Milieu, und das machte sie auch für die politisch weniger motivierten Bürger wählbar. Russlanddeutsche haben noch nie radikal gewählt, dafür sind sie viel zu konservativ.

Die AfD versucht direkt die Zuwanderer mit Wahlrecht anzusprechen. Nach Deiner Einschätzung, unternehmen andere Parteien ähnliche Dialogversuche? Versuchen die etablierten demokratischen Parteien einen Dialog mit den russischsprachigen Zuwanderergruppen einzuleiten?

Es gibt diese Versuche, aber sie bleiben wenig erfolgreich und setzen möglicherweise nicht an der richtigen Stelle an. Ich finde, dass die für die sogenannten Volksparteien typische Arbeit an der Basis, auf der Bezirksebene, die meisten Russlanddeutschen nicht erreicht. Dazu muss man sagen, dass es für die meisten Migranten aus dem postsowjetischen Raum gilt: sie halten sich von der politischen Tätigkeit fern, es ist eine gemeinsame kulturelle Prägung. Nehmen wir die Teilnahme an den Parteiversammlungen als Beispiel.

Für einen postsowjetischen Menschen hat eine Parteiversammlung einen starken negativen Beigeschmack, der schwer zu überwinden ist. Aber es gibt auch eine ganze Reihe von Projekten im Bereich politischer Bildung für Russlanddeutsche und andere russischsprachige Zuwanderer. Bundesverband russischsprachiger Eltern (BVRE) ist ein Versuch, postsowjetische Migranten politisch zu engagieren. Vor der Wahl organisierte man eine Reihe von Diskussionen in Berlin (Marzahn), Leipzig und anderen Großstädten. Eingeladen wurden Vertreter vieler Parteien, es wurde auf Russisch diskutiert. Es ist bemerkenswert und sehr positiv, dass diese Diskussionen keinen eingebauten Filter hatten, dass es hier nicht gesagt wurde "Die AfD bleibt draußen".

Einer Partei kann man beitreten und aktiv mitarbeiten, ohne ein deutscher Staatsbürger zu sein

Die Frage ist nur: wie spezifisch sind die Probleme der Einwanderer aus der ehemaligen UdSSR? Inwieweit können die etablierten Parteien ihre Interessen vertreten? Die Grünen versuchen, in diese Richtung zu gehen, sie engagieren sich schon lange dafür, die im Ausland erbrachte Lebensleistung für die Rentenanrechnung zu berücksichtigen, insbesondere für die jüdischen Flüchtlinge. Auch andere Parteien haben ähnliche diskursive Möglichkeiten. Ich würde aber nicht sagen, dass sie ausgeschöpft werden. Und natürlich wäre es wichtig, dass die Kommunikation systematisch in russischer Sprache stattfinden würde.

Es geht nicht darum, dass die Leute nicht gut genug Deutsch sprechen: Die zweite Generation spricht schon sehr gut, mit der ersten Generation verhält es sich unterschiedlich, und hier spielen Faktoren ein wie die institutionellen Bedingungen der Einwanderung, Alter, Bildung, Arbeit oder Lehre und Studium in Deutschland. Aber wenn sie auf Russisch angesprochen werden - dann ist das eine Anerkennung ihrer besonderen Situation. Die AfD macht das übrigens. Es ist schon sehr interessant: Sie sprechen sie als "echte Deutsche" an - auf Russisch!

Das Wahlrecht hat also eine wichtige Gruppe innerhalb der russischen Diaspora, aber bei weitem nicht alle. Neben den Russlanddeutschen gibt es eine Menge Leute, die jahrelang mit einem russischen Reisepass in Deutschland leben. Die deutsche Staatsbürgerschaft nehmen sie aus verschiedenen Gründen nicht an, dennoch liegt ihr Lebensmittelpunkt längst hier. In der gleichen Situation sind die Bürger aus dem EU-Ausland zumindest auf der Kommunalebene wahlberechtigt: Sie können bei der Kommunalwahl abstimmen, aber nicht für den Bundestag. Bürger der postsowjetischen Länder haben diese Rechte nicht. Würden ihnen diese Rechte erteilt, würden die Wahlergebnisse anders ausfallen? Und würde eine solche Reform die demokratischen Parteien stärken?

Die Untersuchung der Parteipräferenzen aus dem Jahr 2016 fand keine grundsätzlichen Unterschiede bei Bürgern und nicht-Bürgern. Außerdem zeigen nicht nur Russlanddeutsche eine konservative Tendenz, sondern auch hochqualifizierte "Blaue Karte"-Inhaber. Ich schlage vor, wir sehen uns andere Formen der politischen Beteiligung an neben Wahlrecht. Einer Partei kann man beitreten und aktiv mitarbeiten, auch ohne ein deutscher Staatsbürger zu sein.

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Zwei AfD-Bundestagmandate erhielten Kandidaten aus den Reihen der Spätaussiedler, oder, wie sie auch genannt werden, der Russlanddeutschen. Bild: Andy Blackledge /Flickr. Einige Rechte vorbehalten.

Wie sieht es mit dieser Art von politischer Beteiligung bei unseren ehemaligen Landsleuten?

Es hält sich in Grenzen. Auch hier spielt das Mistrauen gegenüber der öffentlichen Politik eine gewisse Rolle. Die liberale Migranten-Szene in Berling betreibt aktive Aufklärungsarbeit über das politische Geschehen in Russland, und zwar auf Russisch (es wäre aber nicht verkehrt es auch in der deutschen Sprache zu tun). Sie besprechen unter anderem die Versuche Russlands, die Wahlen und die gesamte Situation in Deutschland zu beeinflussen. Es gibt einen liberalen Flügel der russischsprachigen Öffentlichkeit, die nicht nur aus Russland stammt, und sie diskutiert über die Situation der Krim. Es gibt also eine Diskussion, aber die Frage ist, welche Form nimmt sie an: Ob es auf der Straße ausgetragen wird oder nicht. Die Demonstrationen vor der Russischen Botschaft sind dann doch nicht besonders zahlreich.

Unser Kolumnist Nikolai Klimeniouk sieht den Sieg der Rechten darin, dass sie nun die politische Tagesordnung bestimmen, ohne dass sie selbst so etwas wie ein politisches Programm vorweisen könnten. AfD ist es gelungen, das Gespräch auf Flüchtlinge und Migranten zu lenken. Alle anderen Themen sind in den Hintergrund gedrängt. Unter anderen diktieren die Rechten das Agenda für die politische Beteiligung der Bürger. Plötzlich rückt die Verbindung „der Russen“ und der deutschen Rechten im Wahlkampf in den Vordergrund. Warum griffen die AfD-Gegner so bereitwillig den Gedanken auf, dass die russischsprechenden Einwanderer eine Art innere Feinde sind?

Das ist nicht das erste Mal, dass die Aussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion stigmatisiert werden. Anfang der 90er Jahren wurden sie nicht als Deutsche anerkannt, man machte über sie schreckliche ausländerfeindliche Witze, dann wurden sie als kriminelle Ausländer dargestellt: Angeblich brachten sie die russische kriminelle Subkultur in die deutschen Gefängnisse, angeblich waren sie hoffnungslose Alkoholiker, und so weiter.

Nun gelten sie als "AfD-Wähler", und diese Schuldzuweisung zu einem feindlichen Fremden ist für viele sehr bequem

Nun gelten sie als "AfD-Wähler", und diese Schuldzuweisung zu einem feindlichen Fremden ist für viele sehr bequem. Und wieder spielt hier das Vorurteil hinein, dass Russlanddeutsche keine echten Deutschen seien.

Schon wieder Kanaken?

Ja, so ein rückständiges Völkchen. Angeblich hätten sie so abgestimmt, wie es ihnen Putin eingeflüstert habe. Die Wähler stimmten nicht deswegen für die AfD, weil da jemand daherkam und ihnen eine Gehirnwäsche verpasste. Sie brauchten keine Propaganda, um bestimmte Haltungen zu teilen, zum Beispiel die Ablehnung der Flüchtlingsaufnahme. Aber für die aufgeklärte Öffentlichkeit ist es sehr bequem anzunehmen, dass es Russlanddeutsche waren, die die AfD in den Bundestag gewählt haben. Ja, Russlanddeutsche haben jetzt zwei Abgeordnete im Bundestag - zwei von 94.

Heißt das etwa, dass die deutsche Politik aus dem Teufelskreis der Fremdenverfolgung nicht herauskommt? AfD prangert die muslimischen Flüchtlinge an, und die liberale Öffentlichkeit stürzt sich auf die "Russen", die ebendiese AfD wählen. Es ist ein Teufelskreis, in dem jeder seine Feinde sucht und jagt.

Ich glaube nicht, dass das lange anhält. Es gibt andere Fragen an der Tagesordnung, und ich hoffe, dass die Jagd nach dem Anderen bald aufhört. Das wird davon abhängen, wie die AfD im Bundestag verfahren wird. Langfristig könnten diese Wahlergebnisse die Menschen in der russischsprachigen Community, die die AfD-Ansichten nicht teilen, dazu anspornen, politisch aktiver zu werden.

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